Papa

Am 31. März 2021 war mein Papa schon mal im Friedwald.

Das war vor etwa 1 ½ Jahren. Es war ein trauriger Tag, die Sonne lachte und wir nahmen von meiner Mama, seiner Gisela, Abschied.

Fast zu selben Tageszeit waren wir an dem besonderen Baum. Egon war damals im Rollstuhl dabei, heute im September 2022, fehlt er und doch ist er hier. 

Gisela und Egon an diesem Ort zusammenbringen

Mein Papa hatte ein tolles Geburtsdatum: 12.12.24 – also 1924. An diesem Tag gab es in der Gartenstadt der preußischen Stadt Wandsbek eine Hausgeburt und der kleine Egon, Reinhard, Karl, Paul erblickte das Licht der Welt. 

Irmgard, genannt Irmi, und Adolf – ja, Adolf war ein gängiger Vorname – freuten sich über ihren Sohn. Ein halbes Jahr später freuten sich die Hoffmanns mit ihren Freunden über die Geburt deren Tochter Gisela. Was daraus wurde, habe ich Euch schon an anderer Stelle erzählt (Mama).

Egon wurde nicht religiös erzogen und trotzdem zog es ihn aus anderen Gründen in die Kirche. Er liebte Musik und er liebte das Singen. Der Kinder- und Jugend-Kirchenchor war nicht weit und so wurde musiziert und gesungen. Etwas später, wir sind jetzt schon mitten in den 1930er Jahren, trat Egon in eine Gruppe der Christlichen Pfadfinder ein. Dabei hatte er einen Hintergedanken. Wer Mitglied bei den Christlichen Pfadfindern war, wurde nicht mehr dem Druck ausgesetzt, der Hitlerjugend beizutreten. Das half nicht sehr lange. Die Hitlerjugend hat kurzerhand und über Nacht die Pfadfindergruppe in die Hitlerjugend übernommen.

Dann kam der 2. Weltkrieg …

Wenn Ihr mal Formulierungen hört, wie das hier: es kam der 2. Weltkrieg oder er brach aus oder wenn berichtet wird, das Menschen in Konzentrationslagern umgekommen sind … dann widersprecht bitte. Kriege brechen nicht aus. Sie werden gemacht und es sind keine Menschen im KZ umgekommen, die wurden vernichtet, ermordet. 

Es dürfte keine Überraschung sein: Der 2. Weltkrieg veränderte das Leben. Egons Vater hat sich freiwillig als Soldat gemeldet und Egons Mutter war stolz auf Ihren Mann. Der große Hakenkreuzring an Ihrer Hand zeigte den Grund dafür. Übrigens zerbrach daran die Freundschaft mit Giselas Eltern, die politisch auf der anderen Seite standen. Auch das habe ich schon berichtet (Mama).

Die Schule war erstmal abgesagt. Egon begann eine Ausbildung bei der Deutschen Reichspost in Rendsburg. Da war der Krieg weiter weg als in Hamburg. 

Natürlich kam der Einberufungsbefehl. Die Wehrmacht brauchte 1941 bereits die jüngsten. Egon wurde mit knapp 17 Jahren Soldat. Nach einer sechswöchigen Ausbildung im besetzten Dänemark, die hauptsächlich (mit viel Kuchen) des körperlichen Aufbaus, der durch Hunger geschwächten jungen Menschen diente, ging es an die so genannte Ostfront. Zunächst mit Zügen und – heute kaum vorstellbar – dann mit Pferd und Wagen weiter an die Front. Egon bekam ein Motorrad. Da er bei der Post war, musste er Nachrichten vom Kommandanten an die Hauptkampflinie bringen. Nicht ungefährlich. Später wurde er Funker. 

Ein paar Tage vor seinem 27. Geburtstag, nach fast 10 Jahren, kam er aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück. Die Bundesrepublik Deutschland war gerade ein halbes Jahr alt.

„Papa, was hast Du im Krieg gemacht?“

In den 1970er Jahren habe ich ihm die typische Frage gestellt, was er im Krieg gemacht hat. Und als wenn er fast darauf gewartet hätte, folgten viele Abende und ganze Wochenenden mit Erlebnisberichten. Es war für mich unfassbar, was Menschen erleben und vermeintlich aushalten können. Millionen von Soldaten und natürlich auch von Zivilbevölkerung haben das irgendwie und ohne psychologische Hilfe verkraften sollen. Auf allen Seiten des Krieges. Sehr viele Menschen waren und blieben Stumm, haben nicht darüber gesprochen, aus welchen Gründen auch immer.

Mein Vater hat das dann aufgeschrieben. Zu seinem 80sten Geburtstag habe ich seine überarbeiteten Erinnerungen als Buch herausgegeben. Die Auflage ist vergriffen. Ich beabsichtige eine Überarbeitung und Herausgabe als eBook.

Da wäre ich fast nicht zur Welt gekommen.

Es gab Erzählungen aus dem Krieg und besonders aus der Gefangenschaft, bei der ich gedacht habe: Ups, da wäre ich fast nicht zur Welt gekommen. Die Erzählungen haben ihm gutgetan. Gequält haben ihn die Erlebnisse ohnehin sein Leben lang. Neben den über 60 Granatsplittern, die bis zu seinem Tod im Rücken Schmerzen verursachten, waren es die Träume, die ihn oft fertiggemacht haben. Nachts schrie er manchmal laut auf. Dann war er wieder in dem Schützengraben, der von sowjetischen Panzern überrollt wurde.

Die vielen melancholischen Wochenenden, in denen er schwermütige russische Volkslieder auf seinem Akkordeon, später auf dem Keyboard, spielte, sind für mich fast ein Trauma. Meine Mutter und ich sind oft „geflüchtet“, haben Eis gegessen oder waren im Kino.

Er war ein so guter Papa

Er war ein Papa, wie ich ihn mir nicht besser wünschen konnte. Wir haben so viel gemeinsam gemacht. Ausflüge mit dem Fahrrad. Für Hörspiele haben wir eigene Ideen zusammen gesponnen und sind mit einem kleinen transportablen Tonbandgerät – ja, mit zwei kleinen Magnetbandspulen und einem Mikrofon mit Kabel – durch die Stadt gelaufen und haben Hintergrundgeräusche aufgenommen. Bahnhofsansagen, Schiffshörner, Kirchenglocken, Menschen die Treppen hinunterlaufen, vorbeifahrende Straßenbahnen. Und dann kamen Super-8-Filme. Also haben wir uns verkleidet. Da hat auch Gisela mitgespielt.  Haben Filme gedreht, immer drei Minuten, dann war die Spule voll. Wir haben Schach gespielt und Politik war unser gemeinsames Thema.

Nie wieder eine Waffe!

Egon ist bei den ersten Ostermärschen mitgelaufen, um gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik zu demonstrieren. In seiner Brieftasche hatte er einen kleinen Zeitungsschnipsel, in dem berichtet wurde, dass Bundeskanzler Adenauer allen ehemaligen Soldaten des 2. Weltkrieges zusagte, dass sie nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen müssen. Das war ihm so wichtig. Den Schnipsel habe ich jetzt zwischen seinen Papieren in einer feuerfesten Kassette gefunden.

Wichtig war ihm auch, dass ich keine Waffe in die Hand nehmen muss. Das ich den Kriegsdienst verweigert und Zivildienst geleistet habe, hat ihn sehr beruhigt.

Post

Er hat die Deutsche Bundespost geliebt und war mit Leidenschaft dabei. Letztlich ist er auch dafür verantwortlich, dass ich bei der Post gelandet bin. Dazu werde ich bestimmt an anderer Stelle einmal ausführlicher berichten.

Das Alter, die Dunkelheit und Alexa

Bis zum 86. Lebensjahr ist er noch Auto gefahren. Seine Sehfähigkeit wurde immer schlechter und als er auf einer Tankstelle ein Auto angefahren hat, war von einem Tag auf den anderen damit Schluss. Egon und Gisela reisten zuvor noch immer mit dem Auto nach Italien, in die Schweiz und zwischendurch immer gerne nach Travemünde. 

Und dann begann schleichend die Pflegebedürftigkeit. Zuerst bei Gisela und dann auch bei Egon. Einige Jahre später ist ihnen der Schritt ins Pflegeheim nicht leichtgefallen. Ich weiß nicht, ob es die Vernunft war, oder ob sie mir nicht zur Last fallen wollten. Das Pflegeheim war für mich gleich um die Ecke und somit war ich mindestens jeden zweiten Tag kurz zu Besuch. Mal mit Hund und mal ohne. Egon war der Hund nicht geheuer, weil er nur etwas Dunkles am Boden erkannte. Er konnte kaum noch sehen und das zu akzeptieren, gelang ihm nicht. „Immer diese Dunkelheit“. Alexa wurde zu seiner besten Freundin. Er konnte Musik hören, Nachrichten und alles Interessante erfragen, was das Internet so weiß und preisgibt. 

Und er hat diese Informationen für die vielen und guten Gespräche mit mir genutzt. Manchmal war ich sehr verblüfft. Er war oft besser informiert als ich und kannte die Hintergründe.

Danke und Verzeihung

Bevor ich mich bei jemandem bedanke, möchte ich mich aus ganzem Herzen bei meiner kleinen Familie entschuldigen und um Verzeihung bitten. Angela und Luna: Ich habe über Jahre hinweg verhindert, dass ihr zu meinen Eltern eine Beziehung, eine Bindung aufbauen könnt, habe sie mit wenigen Ausnahmen alleine besucht. Trotzdem haben Sie an unserem gemeinsamen Leben immer mit ehrlichem Interesse teilgenommen. Von sich aus Fragen gestellt und Grüße ausrichten lassen.

Ich fand den Zustand meiner Eltern nicht mehr vorzeigbar. Es war mir unglaublich peinlich. Ich weiß, dass ihr das ausgehalten hättet – ich bin es, der das nicht ertragen hat. Ich schäme mich so sehr für diese Eitelkeit! Ich bitte Euch um Verzeihung!

Danke Cortina, dass Du so oft bei Gisela und Egon warst, sie besucht und Zeit mit Ihnen verbracht hast. Ich weiß, dass Dir das sehr wichtig war und gleichzeitig hat es mich auch entlastet. Auch in Egons letzten Tagen warst Du bei ihm. Danke! Das wird nie vergessen sein!

Egon hat Gisela vermisst

Nach Giselas Tod war Egon auf der einen Seite noch einsamer und gleichzeitig hat er ganz schnell seine Worte wiedergefunden. Und er und ich die alte vertraute Gesprächsebene. Das haben wir sehr genossen und geschätzt.

Das soll nicht böse klingen, aber durch Giselas Eifersucht, ihre Erwartungen nach ungeteilter Aufmerksamkeit und ihre Demenz, fanden nicht viele Gespräche mit meinem Papa statt. 

Wir haben jetzt wieder so viel diskutiert und über tagesaktuelle Politik gesprochen. Putins Krieg hat ihn sehr beschäftigt und ihm Angst gemacht. Angst war ohnehin sein lebenslanger Begleiter. Ich hatte immer Verständnis dafür. Jemand, der das erlebt hat, kann nicht mutig sein. Die Geschichten sind zu lang um hier auch nur einen kleinen Auszug zu bringen. 

Die letzten Tage seines Lebens …

Mit 85 Jahren, ein Wochenende in Berlin.

… haben ihn immer wieder in diese dunkle Vergangenheit geführt. Er halluzinierte teilweise. Erzählte von Begegnungen, die er am Vortag erlebt hatte. Ich kannte die Geschichten aus seinen Erzählungen. Freundliche Soldaten der Sowjetarmee, die ihr Brot mit den Kriegsgefangenen teilten, die Ankunft in Friedland, Geschichten aus dem Büro. Mit dem Morphium kam dann die Erleichterung. Meistens hat er geschlafen und laut geatmet. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn liebe und er hat ganz schwach und leise geantwortet: „Das ist schön, Danke“.

Es war Zeit. 97 ½ Jahre. Er durfte jetzt gehen. Und Nein! Ich hätte ihn so gerne noch bei mir behalten!

Ich glaube, dass meine Eltern auferstanden und wieder vereint sind. Bei Gott. Mit all der Freude, die zum ewigen Leben dazugehört. Ohne Schmerzen, ohne Angst, ohne Eifersucht. Mit unendlicher Liebe und grenzenlosem Frieden!

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