Mama

Gisela 1925 – 2021

Fast 96 Jahre alt, fast 70 Jahre verheiratet mit dem Mann, den sie ihr ganzes Leben lang kannte. Die Mütter, meine Omas, waren beste Freundinnen.

Kein Wunschkind

Gisela war 1925 ein nicht gewolltes Kind. Die Eltern waren jung und es waren die so genannten „Goldenen 20er Jahre“. Partys und Drogen. Nach drei Wochen wurde die kleine Gisela bei den Großeltern abgegeben, die im selben Haus, einer großen Villa mit Garten, lebten. Die Eltern kümmerten sich nicht mehr um ihre Tochter und das blieb das ganze Leben lang so.

Bei den Großeltern hatte Gisela es sehr gut. Eine behütete, liebevolle und freundliche Kindheit und Jugend. Fast, wenn da nicht die Nationalsozialisten gewesen wären. Lehrer in der preußischen Kleinstadtschule vor den Toren Hamburgs, trugen im Unterricht SS-Uniform. Der Großvater, SPD-Bürgermeister in einer benachbarten preußischen Stadt, wurde abgesetzt und musste die Familie mit Gelegenheitsarbeiten und mit Spenden anderer SPDler:innen und Gewerkschafter:innen ernähren. Es folgten Schikanen der gesamten Familie gegenüber.

Gisela, die Modezeichnerin werden wollte, wurde zur Arbeit in einer Munitionsfabrik für Torpedos verpflichtet. Später war sie dann Marinehelferin. Die einzige junge Frau, die dort unter lauter freiwilligen Nazis dienen musste. Ihr Vater und ihr Großvater wurden immer wieder von der Geheimen Staatspolizei abgeholt und verhört. Der geliebte Großvater wurde schließlich verhaftet und in das Konzentrationslager Neuengamme gebracht. Dort wurde er durch medizinische Versuche ermordet.

Das Verhältnis zu den eigenen Eltern und die Schikanen der Nazis und die Ermordung des Großvaters waren so einschneidende Ereignisse, die meine Mutter sehr geprägt haben. Sie hat ihr ganzes Leben lang darunter gelitten.

Die Liebe zu ihrem Kind, war dafür bedingungslos und unendlich groß. Fast erdrückend. Manchmal. Überbehütet. Anstrengend, da fordernd und von Eifersucht durchzogen.

Als ich seine Hände sah

Als dann mein Vater nach zehn Jahren – Krieg und sowjetische Gefangenschaft – nach Hause kam, treffen sich Gisela und Egon wieder. Eingefädelt von Egons Mutter. „Als ich seine Hände sah, habe ich mich sofort verliebt“. Dann wurde geheiratet und irgendwann später, kam der Sohn (also ich) zur Welt. Berufstätigkeit von Müttern, war noch nicht erfunden. Das war es mit der Modeschule.

Bis etwa zum 87sten Lebensjahr waren Körper und Geist noch sehr fit. Dann ließen die Kräfte nach. Meine Mutter zitierte gerne den Satz: „Altwerden ist nichts für Feiglinge“.

Was für ein Abgang

Morgens gemeinsam mit Egon in guter Stimmung gefrühstückt. Dann quietschvergnügt mit mir telefoniert. Und das sollte schon etwas heißen. Ihre Demenz war inzwischen sehr mächtig geworden. Manchmal rief sie mich bis zu achtmal hintereinander an, ohne zu wissen, dass wir bereits zusammen gesprochen hatten. Geduld war nicht immer meine Stärke. Das war mir bewusst. Ich habe mir große Mühe gegeben. Ihre Liebe für mich war auch in dieser Sache bedingungslos. Gott sei Dank!

Dann zum Friseur (eigentlich waren Friseure geschlossen, im Pflegeheim aber nicht). Anschließend kam eine junge Pflegerin, die immer schon Spaß daran hatte, meiner Mutter die Fingernägel in allen möglichen Farben zu lackieren. Schnell noch die Lippen rot angemalt. Das war immer wichtig.

Eine Stunde später der Anruf aus der Notaufnahme des benachbarten Krankenhauses. Nicht mehr ansprechbar. An ihrem Bett gesessen und alte Geschichten erzählt. Gute und auch schlechte Geschichten. Und für Sie gebetet. Ihr gesagt, dass ich sie liebe. Ob sie mich gehört hat?

Aus einem Trauerbrief

Aus einem Trauerbrief, der mich sehr berührt hat:

„In diesen Stunden geschah, was im Leben nicht möglich war. Wir wollten nichts mehr, beide nicht. Wollten nichts voneinander, den anderen nicht ändern noch ihm unbedingt etwas mitgeben, auftragen, dies eine noch für ihn zu tun, nichts mehr zu sagen, für beide nicht, nichts als hier zu sein. Es war alles getan und gesagt, es war gut.“

Mit der Bitte an Gott

Und jetzt Mama lassen wir dich ziehen – in der Hoffnung , dass du in seinen oder ihren Händen aufgehoben bleibst. Mit der Bitte an Gott, dich von allem, was dich belastet hat, endgültig zu befreien, dir Frieden und in der Hoffnung auf Auferstehung, unendliche Liebe zu schenken.

Ich bin sehr glücklich, dass du da warst und ich werde dich immer in meinem Herzen behalten Mama. Ich bin ein gewolltes Kind. Den Unterschied und dieses Geschenk habe ich wohl jetzt erst verstanden.

Papa

Der schwerste Gang, waren die 200 Meter vom Krankenhaus zu meinem Vater. So fest hat er meine Hand noch nie gedrückt. Papa, du wirst noch gebraucht. Bitte halte noch etwas aus! Ich liebe dich!

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