Impfen spaltet die Gesellschaft

Tatsächlich wird seit vielen Monaten immer wieder der Druck aufgebaut, bloß nicht die Gesellschaft zu spalten – als sei der Zusammenhalt ein völlig neuentdeckter Wert. Und im Grunde klingt das einleuchtend, wünschenswert sowieso. Zunächst jedenfalls. Wenn das nicht als Waffe beim Corona-Thema missbraucht werden würde.

Diejenigen, die der Mehrheitsgesellschaft Spaltung vorhalten, sind dermaßen auf sich selbst fokussiert, dass es mich erschreckt. Möglicherweise gehört das bereits zur inneren Ab-Spaltung? Ist Freiheit einzelner Menschen wirklich bedeutender als Gemeinwohl, Gesundheit oder Demokratie?

Ab- statt Spaltung

Wenn sich eine kleine Minderheit abspaltet, ist das nicht die Spaltung der Gesellschaft. Selbst wenn über 50.000 Menschen an einem Montag demonstrieren, bleibt es bei einer Minderheit. Am selben Montag haben sich über 1.400.000 Menschen eine Impfspritze verabreichen lassen. 

Mir fallen sofort andere Themen ein, in denen die Spaltung schon längst zu unserer Lebenswirklichkeit gehört:

  • Jedes fünfte Kind wächst in Armut auf. In Deutschland. Die Familie lebt dann von und nach Regeln eines so genannten Sozialgesetzbuches. Im Alltag nennen wir das Hartz IV. Gleichzeitig wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer. Die sehr Reichen werden in nationalen oder globalen Krisenzeiten sogar noch reicher. 
  • Rentner:innen, die zuvor ein Leben lang gearbeitet oder familiäre Leistungen erbracht haben, können sich oft ein würdiges Leben nicht leisten. Das Containern von Lebensmitteln ist jedoch noch immer verboten.
  • Flüchtlinge ersaufen noch immer im Mittelmeer, die Anzahl der Flüchtlinge und der Hunger in der Welt nehmen zu und bei uns blüht der Waffenhandel obszön weiter. Sind ja schließlich Arbeitsplätze. Eine globale Spaltung.
  • Und dann noch das Klima: Wissenschaftler:innen zeigen die Katastrophe auf, die uns in den kommenden 10 Jahren ereilen wird. Bei uns verteidigt die Mehrheit das „normale Leben“ ohne Tempolimit und mit „immer so weiter“. Im globalen Süden stirbt die Natur. Menschen inklusive. 

Das ist Spaltung, die Zukunft, Leben, Freiheit und Demokratie gefährdet! 

Querdenker – was für ein Wort

Das ist geschickt gewählt. Querdenker waren – vor dem Wortmissbrauch – Menschen, die Lösungen großer Fragen mit neuen Gedanken, ungewöhnlichen Herangehensweisen, mutig angehen und sich durch das Risiko des Scheiterns nicht aufhalten lassen. 

Heute sind es Funktionäre, die ihre politische Suppe kochen und die Ab-Spaltung der Gesellschaft nicht nur in Kauf nehmen, sie betreiben das aktiv. Hauptsache die Demokratie wird geschädigt. Corona, ein Thema mit vielen Emotionen, Ängsten und tatsächlich misslungener Kommunikation und einem dilettantischen Krisenmanagement, kommt da sehr gelegen. 

Es geht diesen Manipulator:innen um Mobilisierung gegen die Demokratie und eben nicht um Freiheit und allgemeine Bürgerrechte. Worte dieser Menschen werden durchaus radikaler und gewaltvoller. Mit absurden Zahlen und unter Missachtung der einfachsten Prozentrechnungen werden Vergleiche angestellt, die verharmlosend als Fake-News bezeichnet werden. Wenn das absichtlich geschieht, sind das jedoch Lügen. Und es ist Absicht! Das ist der aktive und bewusste Versuch, eine Ab-Spaltung herbeizuführen. 

Freiheit ist das höchste Gut der Verfassung

Christian Lindner am 6. Januar 2022

Nein! Die Freiheit steht nicht über Unversehrtheit und anderen Grundrechten. Da würde mit dem Wertesystem etwas nicht stimmen, wenn die körperliche Unversehrtheit ganzer Bevölkerungsgruppen nahezu ignoriert wird. Wenn nur die Alten gefährdet sind, ist es ja nicht so schlimm. Doch ist es! Leben und Gesundheit von Menschen ist gleichwertig!

Grundrechte in unserer Verfassung lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. „Die Freiheit ist das höchste Gut der Verfassung.“ Nein Herr Lindner, die Freiheit steht in einer Reihe mit den anderen Grundrechten. Nicht weniger und nicht mehr. Herr Lindner relativiert dann zum Glück etwas: „… es müsse ein konsequenter Gesundheitsschutz bei möglichst viel gesellschaftlicher Freiheit garantiert werden“.

Apropos Freiheit. Dazu habe ich vor ein paar Tagen einen Beitrag geschrieben: Normal in Freiheit leben

Sterben ist nicht alles

Es geht bei Corona nicht ausschließlich ums Sterben. Dieses Virus hinterlässt nicht selten Langzeitfolgen (Long-COVID), die eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität mit sich bringen. Betroffen sind hier Menschen jeden Alters, sogar Kinder und Jugendliche. Aktuelle Zahlen gehen von bis zu 40 Prozent Long-COVID-Symptomen bei den so genannten Genesenen aus (Stand Mitte Januar 2022).

Liebe ungeimpfte Freundinnen und Freunde, passt bitte besonders auf euch auf! Auf den Intensivstationen liegen viel, viel mehr ungeimpfte Menschen. Wer das genau nachrechnen möchte, berücksichtige bitte die realen Zahlen im Verhältnis zur geimpften und ungeimpften Bevölkerung. Prozente können hier täuschen.

Meinungsfreiheit

Ich habe von einem Freund gelernt und stimme ihm zu, dass nicht alle Impfgegner:innen Nazis sind. Trotzdem meine Bitte: Schaut genau hin, wer da zu Demos aufruft, mit wem ihr demonstriert oder „spazieren geht“. Wenn alles „clean“ ist, nutzt unsere demokratischen Rechte und demonstriert (unter den geltenden Bedingungen und Gesetzen) gewaltfrei und kreativ für eure Meinungen. Selbst wenn es der absurdeste Quatsch ist (Exen aus dem Untergrund, Chips aus der Spritze, Impfstoff aus der Klimaanlage), darf das in diesem Land gesagt und geschrieben werden. 

Was ist bei Corona so anders gelaufen? 

Die Kommunikation in dieser Pandemie war von Beginn an, ein großes und völlig unnötiges Desaster. Alle Expert:innen und Politiker:innen hätten deutlich machen können, dass sie auch nicht wissen, wie es geht, jedoch das Beste versuchen. Ein Expert:innengremium zur Beratung der Politiker:innen wäre gleich zu Beginn eine gute und wichtige Maßnahme gewesen. Stattdessen Talk Shows und Pressekonferenzen mit Informationen, die eine Halbwertzeit von wenigen Stunden hatten. Endlose Kleinstaaterei und Wahlkampfprofilierungen waren auch nicht hilfreich. Und dann waren da auch noch Skandale (Bereicherung durch so genannte Masken-Deals einzelner Politiker:innen). 

So ein Hin und Her hat Vertrauen gekostet

Zur Erinnerung: Masken sind nicht erforderlich – Masken sind ein unverzichtbarer Schutz. Impfen mit AstraZeneca, dann doch lieber nicht, sondern Moderna oder Biontech. Jetzt impfen lassen, nur Termine und Ressourcen gibt es nur schwer und mit großer Barriere. Letzteres ist wieder so. Ich wiederhole: Es gab für diese Krise keine Blaupause, die aus der Schublade genommen wird und dann ist ein einfacher Plan gefunden. Meine Erwartung war mehr Transparenz und ein stringentes Krisenmanagement auf breiter Basis.

Schwaches Krisenmanagement verlagert den Streit

Wenn die Bundesregierung oder auch Landesregierungen nicht gut kommunizieren und keine klaren und nachvollziehbaren Entscheidungen treffen, fördert das nicht nur Verschwörungsspinnereien und Radikalität. Der Streit wird in Familien und Freundeskreise verlagert. Mehr und stärker, als das bei anderen politischen oder gesellschaftlichen Themen vorkommt. Hier gibt es nur ein Schwarz oder ein Weiß. Ein Dafür oder ein Dagegen. Und manchmal hilft nur die bewusste Ausklammerung des C-Themas, um ein harmonisches Treffen zu haben. Zuhören und Interesse am Standpunkt anderer Menschen sind nicht sehr gefragt. Argumente, sind Emotionen gewichen. Aussage steht gegen Aussage. Bewegung? Null.

Angst verdient Respekt und uneingeschränkte Anerkennung

Du bist kein:e Querdenker:in? Du bist kritisch, misstraust aber nicht grundsätzlich dem Staat? Du hast dich schon häufig impfen lassen – nur bei Corona hast du Sorgen und Bedenken?

Wir müssen lernen, mit COVID-19 zu leben. Masern sind heute nicht mehr tödlich! Grippe ist immer noch gefährlich, nur wenige sterben daran. Dagegen haben wir Impfstoffe und Medikamente entwickelt. Wer schon früher eine Fernreise gemacht hat, hat sich selbstverständlich impfen lassen: Tetanus, Diphtherie, Hepatitis A/B, Tollwut, Typhus, Poliomyelitis, Enzephalitis.

Wenn die Entwickler:innen jedes neuen Impfstoffs, wofür oder wogegen auch immer, solange gewartet hätten, bis das allerletzte Restrisiko (das es gibt) erforscht und beseitigt ist, wären wahrscheinlich vergangene Pandemien mit schrecklicherem Ausgang verlaufen. Bei herkömmlichen Impfstoffen und bei Medikamenten besteht immer ein Restrisiko. Wer Beipackzettel liesst, weiß das.

Mittlerweile (Stand: Dezember 2021) sind etwa 4.000.000.000 (4 Milliarden) Menschen, rund die Hälfte der Weltbevölkerung, geimpft. In Deutschland sind es 60 Millionen (das sind 72,5 % / Quelle: www.rki.de). Eine größere Sicherheit hat es niemals vorher gegeben. 

Angst verdient Respekt und uneingeschränkte Anerkennung als ehrliches und gutes Motiv. Angst kann abgebaut werden. Es ist oft nicht so einfach, geht aber. Versuchen? Ja. Bitte.

Skip to content