Wie nötig wäre Religion! – Ist der demokratische Grundkonsens gefährdet?

Ein Gastbeitrag von Rudi Hubert*

Um es vorweg zu sagen: Ich glaube, dass nach wie vor die überwiegende Mehrheit in Deutschland Vertrauen hat zu demokratisch legitimierten Institutionen. Und ich denke, dass es gute Gründe für die Annahme gibt, dass sich das auch in Zukunft nicht wesentlich ändern wird.

Dennoch ist die offene Gesellschaft, die Demokratie kein ‚Selbstläufer‘. Sie ist der Rahmen für Eigenverantwortung und für die Realität einer Solidargemeinschaft. Offensichtlich scheint derzeit dieser Rahmen Risse zu haben. Wie anders soll man es sich erklären, dass es Menschen gibt, die sich dem ‚Expertenrat‘ verweigern, die sich selber zur letzten Entscheidungsinstanz ‚aufschwingen‘? Mit denen ein sachliches Gespräch schon deshalb nicht (mehr) möglich scheint, weil jeder, der ihren Ansichten widerspricht, selbst Opfer (und auch Täter!) einer großangelegten Verschwörung ist, die nur ein Ziel hat: Reiche reicher zu machen nach altbewährtem Muster und die als ‚dunkle Macht‘ hinter all den Erscheinungen steht, mit denen wir es heute zu tun haben.

Weder Austausch noch Erkenntnisgewinn

„Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Freiheit klaut.“ So war es auch gestern Abend wieder auf Schwerins Straßen zu hören. Dabei ist ja längst nicht alles falsch, was hinter diesen ‚Klassenkampfparolen‘ steckt, denn gerne würde ich mit diesen gesellschaftlichen Kritikern über ein gesellschaftliches Alternativmodell zum ‚real existierenden Kapitalismus‘ diskutieren. Ebenso über die Möglichkeiten, was jeder Einzelne dabei tun kann. Doch warum scheitern so viele Gespräche? Warum kommen sie oft gar nicht  erst zustande? Mir scheint, dass es eine ‚Botschaft hinter der Botschaft‘ gibt. Es scheinen Erfahrungen zu sein, die in der eigenen Biografie zu suchen sind, wenn Menschen sich permanent überfordert und zugleich benachteiligt fühlen. Wenn sie die Verschwörungsmythen brauchen, um sich selbst in den Rang eines Wissenden, eines Experten zu heben. Dann ist ein Gespräch schon deshalb nicht möglich, weil es nicht um Austausch oder Erkenntnisgewinn geht, sondern darum, dass der angeblich ‚Wissende‘ bestätigt wird, um so seinen Selbstwert zu erhöhen.

Wendepunkte

Kann es sein, dass hinter all diesen Vorgängen eine Erfahrung steht, auf die eigentlich nur die Religion eine hinreichende Antwort geben kann? Dabei – und das sei gleich vorweggesagt – kann möglicherweise erst diese Antwort ein rechtes Verständnis für das abgeben, was unter Religion verstanden wird.  Ich glaube, es ist kein Zufall, dass der große Denker unserer Tage, Eugen Drewermann, sein Werk „Wendepunkte“[1] mit den Worten beginnt:

„Wie nötig wäre Religion! Wer, wenn nicht sie, könnte den Menschen sagen, dass sie mehr sind als Übergangsgebilde im Stoffwechselhaushalt der Natur, dass sie zu schade sind, um sich als Konsumenten und als Produzenten im Wirtschaftskreislauf dubioser Kapitalverwerter zu verschleißen.“

Und als Fazit seines dreibändigen Grundlagenwerkes „Strukturen des Bösen“ können wir lesen:

„So enthält die ganze vorliegende Arbeit…eigentlich nur einen einzigen Gedanken: dass der Mensch als bewusstes Wesen sein eigenes Dasein ohne Gott nicht ertragen kann…“ (LXI)

Und an anderer Stelle:

„Das Gefühl der Angst bläht alles auf; es zwingt den Menschen, seine Ansprüche an sich selbst höher und höher zu schrauben, und je haltloser sich jemand fühlt, desto reicher, mächtiger und potenter wird er sich zu geben suchen…bis dass es ihm aus lauter Angst so geht, wie dem Frosch in der berühmten antiken Fabel, der es einem Stier an Macht und Größe gleichtun wollte und sich dabei so heftig aufblies, dass er platzte…“ (LXXVI f).[2]

Bleibt nur noch anzumerken, dass es viele Menschen gibt, die sich im Leben gehalten und getragen erfahren, ohne den Begriff ‚Gott‘ je zu kennen oder zu nennen. Darum setzt das ‚Gottesdenken‘ auch nicht bei irgendwelchen Begrifflichkeiten an, sondern „bei der Erfahrung Gottes als des zum subjekthaften Handelns für Andere Aufrufenden und Befreienden.“[3]

Man kann es noch präziser fassen, denn „Der Vollzug dieses gläubigen Subjektseins ist der einzige Ort, an dem theologische Rede sinnvoll ist.“[4]

Rudolf Hubert

Schwerin, 4. Januar 2022


*Diesen Beitrag veröffentliche ich mit ausdrücklicher Genehmigung des Verfassers. Rudi Hubert arbeitet als Referent für Caritaspastoral bei der Caritas in Schwerin. Uns verbindet Glaube und Freundschaft.


[1] Eugen Drewermann „Wendepunkte“´, Ostfildern 2014, S. 9

[2] Eugen Drewermann „Strukturen des Bösen“, III Paderborn 1978/1988; die Zahlen in Klammern geben die Seitenzahl an

[3] Ralf Miggelbrink „Ekstatische Gottesliebe im tätigen Weltbezug“, Altenberge 1989, S.288

[4] Ralf Miggelbrink „Ekstatische Gottesliebe im tätigen Weltbezug“, Altenberge 1989, S.288

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