In einer Sekunde

Was ist passiert?

Nur mal schnell mit dem Fahrrad in die Innenstadt. Ist ja nicht weit, nur ein paar Minuten entfernt. Etwas einkaufen und dann zum Abendessen wieder zurück. So war der kleine Plan am 29. Dezember 2022.

Meine Frau kam gerade nach Hause und ich schnappe mir ihr Fahrrad, da das ja nun gerade draußen stand und fahrbereit war. Aufsteigen und los. In das Geschäft gegangen, eingekauft und noch einen Klönschnack gehalten. Fertig. Nun wieder auf das Fahrrad und ab nach Hause. Ganz normal, ohne Zeitdruck.

Etwa 19 Uhr unterhalb der Lombardsbrücke

Im Dezember ist es um 19 Uhr bereits lange dunkel. Gleich neben und vor der Kunsthalle ist seit längerer Zeit eine Baustelle. Der Verkehr für die Autos ist verschwenkt. Für Fahrräder sieht es da ja meistens nicht so gut aus. Unterhalb der Brücke war auch noch Baustelle, die schlecht oder gar nicht beleuchtet war. Ich weiß es nicht mehr genau. Es hatte die Tage zuvor immer mal wieder geregnet.

Ich überquerte – vom Ballindamm kommend – mit dem Fahrrad den Glockengießerwall in Richtung Ferdinandstor. Diese große Kreuzung war auch für Fahrräder gut mit Ampeln abgesichert. Im Ferdinandstor angekommen geht es dann leicht runter. Der Fußbodenbelag ist zunächst befestigt. Unterhalb der Brücke ist aber Baustelle. Dort ist es sandig. Wenn es nicht geregnet hätte. Links, der provisorische Radweg ist trocken. Rechts, der provisorische Fußweg ist matschig und hat mehrere große Pfützen.

Es ist dunkel

Es ist dunkel. Unterhalb der Brück angekommen, sehe ich unmittelbar vor mir – also etwa 1 ½ Meter vor mir – ein Gruppe Menschen, die unerwartet von rechts nach links wechselt. Das heißt, direkt vor mein Rad kommt. Ohne zu gucken. Ich bremse scharf.

Ich bremse scharf

Das Fahrrad rutscht unter mir weg. So werde ich es später immer wieder erzählen. Ich stürze auf meine rechte Seite und schreie vor Schmerzen. Mir wird übel und in meinem Kopf dreht sich alles.

Sofort sind viele Menschen um mich herum. Steigen von ihren Fahrrädern ab. Die Unfallstelle wird gesichert. Es ist einer der am häufigsten befahrenen Radwege Hamburgs. Schließlich soll nicht noch ein Mensch über mich oder das Fahrrad, das ein paar Meter neben mir liegt, stürzen. Wahrscheinlich sind auch die Menschen unter den Helfenden, die vor mein Rad gelaufen sind, dabei.

Da mir übel wird, bitte ich darum, mir beim Hinsetzen zu helfen. Zwei Touristen aus Österreich, wie ich im Gespräch feststellte, halfen mir und stützten meinen Rücken. Ich konnte meinen rechten Arm und mein rechtes Bein nicht mehr bewegen. Es schmerzte sehr. Die Unterhaltung half mir dabei, einen klaren Kopf zu bekommen. Es dauerte allerdings doch wahrscheinlich länger. Ich versuchte mich zu bewegen. Das war nicht möglich.

Nach einer Weile hörte ich eine fremde Stimme in der Menschengruppe vor mir: „Das bringt nichts mehr, ich rufe mal die 112 an“. Als ich das hörte, reagierte ich mit „oh ja, bitte“.

6 Minuten später Tatütata

Ein Rettungswagen quälte sich entgegen der Fahrtrichtung durch den Autoverkehr und hielt neben mir auf der Fahrbahn. Die Blaulichter füllten den gesamten Raum unterhalb der Brücke. Die Menschen sahen witzig aus. Das beruhigte mich sehr.

Die drei Rettungskräfte waren sofort bei mir. Ich erzählte, was passiert war, was schmerzte und was mir nicht mehr möglich war. Die Trage wurde neben mir platziert. Ich wurde in eine Decke gehüllt und liegend stabilisiert. Vier Hände von rechts und zwei von links zogen und hoben mich auf die Trage. Ich schrie wieder. Die Schmerzen waren unglaublich. Schließlich lag ich auf der Trage und dann auch schnell im Rettungswagen.

Das ich am ganzen Körper zitterte und mit den Zähnen klapperte war mir nicht aufgefallen. Eine Rettungskraft sprach mich darauf an. Ich sagte, dass ich nicht frieren würde und nicht weiß, warum ich klappere. Später erfuhr ich, dass ich mich in einem Schockzustand befand, der das auslöste.

Inzwischen war auch die Polizei vor Ort. Ich hörte nur „Unfall ohne Fremdverschulden“ und protestierte nicht. Die Polizei holte den Fahradschlüssel und sicherte das Fahrrad an einem Geländer.

Meine Lieblingsjacken

Nun lag ich da. Mir wurden die Schuhe und meine Jeans ausgezogen. Der Versuch, meine Jacke auszuziehen, quittierte ich mit heftigen Schmerzensschreien. Dann sah ich die Schere. „Sind Sie einverstanden?“ – „Wat mutt, dat mutt.“ Also wurde zunächst die Daunenenjacke aufgeschnitten und ausgezogen. Es folgte die Strickjacke (beide Jacken waren meine aktuellen Lieblingsjacken), das Oberhemd und das T-Shirt. Das ging schnell. Den Tascheninhalt konnte ich noch retten lassen. Die Gute Nachricht: Ich blutete nicht.

Inzwischen wurde ein Schmerzmittel vorbereitet und für den Tropf ein Zugang gelegt.

Ich wollte telefonieren. Mein Handy wurde aus der Hosentasche geholt, ich verriet meine PIN und den Namen meiner Frau, die mit dem Essen schon auf mich wartete. Ich erzählte nur kurz: Fahrradsturz, Rettungswagen, AK St. Georg, ich melde mich, sobald ich mehr weiß. Die Reaktion am anderen Ende des Telefons war ein „Okay“. Ich war belustigt und gleichzeitig beruhigt, dass meine Frau die Nachricht so entspannt aufgenommen hat.

Bin ich schon tot?

Das Schmerzmittel beginnt zu wirken. Und wie es wirkte! Ich liege fixiert, angeschlossen und nur mit einer Unterhose bekleidet auf der Trage. Meine rechte Hand liegt auf meinem Bauch. Ich spüre meine Haut. Meine Augen sehen, dass ich plötzlich unter Wasser liege. Ich bekomme Angst. Ohne Sauerstoff unter Wasser. Das ist nicht gut. Mit der Hand spüre ich meine trockene Haut. Was ist hier los? Ich verstehe das nicht.

Im nächsten Moment sehen meine Augen, dass ich in Watte liege. Ich bin froh, dass das Wasser weg ist. Ich verstehe die Watte nicht. Was bedeutet das? Plötzlich schießt mir die Frage durch den Kopf: Bin ich schon tot? Ich bin kurz davor, in Panik zu geraten. Ich beginne zu beten. Meine Atmung fühle ich jetzt schmerzhaft. Ich bin völlig verwirrt und mir wird wieder übel. Und dann höre ich eine Stimme (nein, nicht was Du jetzt denkst): „Auch wenn Sie uns nicht sehen, wir sind die ganze Zeit bei Ihnen“.

Auch wenn Sie uns nicht sehen, wir sind die ganze Zeit bei Ihnen

Mir schießen Tränen in die Augen. Was für ein erlösender Satz! Eine Rettungskraft spricht ihn aus. Die Stimme kannte ich. Ich beruhige mich und langsam sehe ich auch wieder klarer, was um mich herum tatsächlich ist. Auf der Trage liege ich sehr hoch in dem Rettungswagen. Die sitzenden Rettungskräfte kann ich nicht sehen. Ich weiß, dass sie da sind. Der Rettungswagen fährt jetzt rumpelnd mit Blaulicht und Martinshorn los.

Diesen Satz werde ich nie wieder vergessen. Danke an das ganze Team des Rettungswagens! Viele Wochen später entzünde ich im St. Marien-Dom eine Kerze für das Team und diesen wunderbaren Satz.

Was für ein Trip.

AK St. Georg

Hochbetrieb in der Notaufnahme. Sehr freundliche Menschen erwarten mich. Ich komme schnell in einen Untersuchungsraum. Dann geht es zum Röntgen und in die Röhre. Blutabnahme inklusive. Dann warte ich in einem Krankenbett auf dem Flur auf die Ergebnisse.

Diagnose: Beckenbruch, rechter Oberarmknochen gebrochen und ineinander gestaucht, rechte Schulter-Gelenkkapsel ausgekugelt und möglicherweise angebrochen. Muskulatur teilweise abgerissen. Hämatome nahezu durchgehend von der Schulter bis zum Knie.

Auf Station

Das Krankenhaus liegt im Stadtteil St. Georg, dem Bahnhofsviertel Hamburgs. Die Menschen hier, spiegeln diese Realität deutlich wieder. Die ersten Tage verbringe ich in einem Zweibettzimmer. Insgesamt zwei Mitmenschen erlebe ich dort. Beide sind obdach- bzw. wohnungslose Menschen. Das war teilweise anstrengend und trotzdem angenehm und sogar berührend.

Mein erster Zimmergenosse duschte dreimal pro Tag und genoss nahezu rund um die Uhr den Fernseher. Zum Glück mit Kopfhörer. Bei den Mahlzeiten hatte ich die Schwierigkeit, das eingeschweißte Besteck aus der Verpackung zu befreien. Obwohl selbst mit einer Beinverletzung eingeliefert, stand dieser Mensch auf und half mir dabei. Wenn er sich etwas zu trinken einschenkte, tat er das für mich auch. Ich hatte ihn gar nicht darum gebeten, war und bin ihm sehr dankbar dafür! Unterhalten konnten wir uns kaum. Ich erkannte nichtmal seine Sprache.

Der zweite Zimmergenosse war sehr viel unterhaltsamer. Auch für ihn war es unaufgefordert eine Selbstverständlichkeit, mir zu helfen. Ich wäre nie alleine an das Besteck gekommen. Wir tauschten unsere Brote aus. Er durfte keinen Käse und ich esse keine Wurst. Bei der Überlastung der Menschen, die im Gesundheitssystem arbeiten, hatte das nicht so gut funktioniert.

Das änderte sich, als „bemerkt“ wurde, dass ich Privatpatient bin. „Darf es ein Cappuccino sein?“ oder „Welche Zeitung möchten Sie lesen?“ Man-o-man: Das darf doch wohl 2023 nicht wahr sein! Ich bekam jetzt auch ein Einzelzimmer. Das Angebot habe ich gerne angenommen. Nach der OP wollte ich meine Ruhe haben.

Silvester schon wieder anders

Für den Jahreswechsel 2021 auf 2022 hatte eine Corona-Infektion die Planung für unsere Familie übernommen. Und jetzt dieser Fahrradsturz. Jetzt reicht es aber auch!

Ich schaue aus dem Fenster im siebten Stock des Krankenhauses mit Blickrichtung St. Marien-Dom, meinen Arbeitsplatz und den Hansaplatz im Bahnhofsviertel St. Georg. Bist etwa 4 Uhr steigen immer wieder Raketen in den Himmel. Sieht eigentlich ganz schön aus.

Operation der Oberarmknochen

Am 2. Januar 2023 dann endlich die OP. Chaotisch, wie in den letzten Tagen auch, läuft der Tag ab. Um 12 Uhr hatte ich den OP-Termin. Um 18 Uhr lag ich noch immer ohne OP und ohne etwas gegessen und nur wenig getrunken zu haben, in meinem Zimmer. Keine Kommunikation. Auch auf Nachfrage nicht. Dann bringt mir eine Krankenschwester das Abendessen. Das ist auch Kommunikation, die ich als Antwort auf meine Frage nach der OP gedeutet habe. Ich esse mit Appetit. 20 Minuten später soll ich zur OP. Das war es für heute. Keine OP. Nächster Termin morgen. Und tatsächlich. Abholung zur OP. Lustige Krankenpfleger heben mich aus dem Bett auf eine Liege. Das Bett wird gekennzeichnet mit „OP Raum 8“. Im OP-Raum dann weitere Vorbereitung. Ich werde angeschlossen und verkabelt. Die Enge des Raumes überrascht mich. Ich soll von Weihnachten erzählen. Nach wenigen Worten wirkt die Narkose.

Ich wache in meinem Bett auf. Bin immer noch verkabelt. Das Bett steht, mit zahlreichen anderen Betten, in einem großen Raum. In diesem Aufwachraum ist ordentlich Betrieb. Ich muss dringend zur Toilette, kann aber nicht aufstehen. Endlich werde ich auf mein Zimmer gefahren und kann ins Badezimmer. Während der OP werden die Patient:innen mit Flüssigkeit versorgt. Das erklärt es dann.

Nun habe ich eine 17 Zentimeter lange Narbe, die an der rechten Schulter beginnt und bis zum rechten Oberarm hinabreicht. Darunter befindet sich eine ebenso lange Metallschiene, die mit neun Schrauben a sechs Zentimeter Länge den Knochen stabilisieren.

Physiotherapie oder es geht voran

Sehr viele Termine und sehr viele Übungen Zuhause. Es war eine Quälerei und ist es zum Teil noch heute. Es wird jedenfalls. Den rechten Arm kann ich schon wieder schmerzfrei bis etwa 50 % bewegen. Die mögliche Belastungsgrenze hat sich ebenfalls gesteigert.

Kurz nach der OP während einer Visite bekam ich den Hinweis: „Sie dürfen noch nicht schwer tragen.“ Meine Frage daraufhin: „Was bedeutet schwer?“ Antwort: „Alles, was über einen Becher Kaffee hinausgeht.“ Ups.

Bruch des Beckens

Mit dem Bruch des Beckens hatte ich wohl Glück. Mein Bruch hat sich bei Belastung geschlossen. Deshalb durfte ich gleich ohne Krücken gehen. Das war gut. Krücken hätte ich mit dem Oberarm nicht benutzen können. Ein etwa 150 cm hoher Gehwagen hat mir die ersten Tage im Krankenhaus gute Dienste getan. In Minischritten ins Bad und wieder zurück ins Bett.

Apropos Glück

Fahrradhelm

Zum Glück bin ich nicht auf den Kopf gefallen. Ich war ohne Helm unterwegs. Wenn ich mit der Wucht, die mein Becken und meinen Oberarm gebrochen hat, auf den Kopf gefallen wäre. Puh. Deshalb niemals wieder ohne Helm aufs Rad! Mit einem kleinen Trick kann ich ohne Helm gar nicht fahren. Der Fahradschlüssel ist am Helm befestigt.

Familie und beste Freunde

Ich danke Euch so sehr! Beistand! Trost! Support! Und Zuhause ein großes Dankeschön, fürs Aushalten meiner Frustmomente!

Auflösung des Titels: In einer Sekunde

Auf meine Nachfrage hin, wie lange denn noch, war das die Antwort des Arztes: „In einer Sekunde brechen Sie sich die Knochen und dann haben Sie etwa 1 ½ Jahre damit zu tun.“

Bild von Ingo Kramarek auf Pixabay
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